Deindustrialisierung: Ist Ende der Spirale nach unten noch absehbar?
Die Ergebnisse des Supply Chain Pulse Checks von Deloitte und BdI verdeutlichen, dass die Attraktivität des Standorts Deutschland abnimmt, was wiederum dazu führt, dass zahlreiche Unternehmen wesentliche Teile ihrer Wertschöpfung verlagern.

Wegen der Energiekrise steht auch der Chemiekonzern BASF unter Druck.
Foto: PantherMedia / firn
Inhaltsverzeichnis
- Eine beispielslose Entlassungswelle
- „Ende der Spirale nach unten nicht absehbar"
- Warum Digitalkompetenz sehr wichtig ist
- Appell an die neue Bundesregierung
- Kippt die Stimmung im Maschinenbau?
- Zukunft der europäischen Industrie: Energiepreise müssen fallen
- Befragung Supply Chain Pulse Check von Deloitte und BdI
- Wichtigere Teile der Wertschöpfung wandern ab
- Umfrageergebnisse im Überblick:
- Viele Warn- und Hilferufe von allen Seiten
- Deindustrialisierung „Made in Germany“
- Verlagerung der Produktionen ins Ausland
- Standort Deutschland bedroht?
- BASF legt ein Sparprogramm vor und geht weiter nach China
- Kollateralschaden durch Deindustrialisierung für deutsche Städte?
Die Deindustrialisierung geistert durch Medien, soziale Netzwerke und Foren. Doch nun scheint es, dass Deindustrialisierung kein Schreckgespenst mehr ist, sondern sie längst in Europa und damit auch in Deutschland angekommen ist.
„Das Jahr 2025 ist noch nicht einmal zur Hälfte vorüber und die deutsche Wirtschaft hat bereits mehr als 100.000 Stellenstreichungen angekündigt“, sagte Harald Müller, Geschäftsführer der Bonner Wirtschafts-Akademie (BWA). Allein bei Volkswagen seien ab Juli durch das Ende der Jobgarantie bis zu 35.000 Stellen gefährdet, so die Aussage. Er räume ein, dass nicht alle Entlassungen bereits für dieses Jahr vorgesehen seien, frage jedoch, ob es wirklich tröstlich sei, wenn diese Streichungen erst im nächsten oder übernächsten Jahr stattfinden würden. Außerdem weise er darauf hin, dass im Jahr 2024 bereits knapp 70.000 Industriearbeitsplätze in Deutschland verloren gegangen seien.
Eine beispielslose Entlassungswelle
Harald Müller, der Chef der BWA, warnt vor einer beispiellosen Entlassungswelle in der deutschen Wirtschaft. Neben Volkswagen, wo bis zu 35.000 Stellen auf dem Spiel stehen, haben zahlreiche große Unternehmen massive Stellenabbauten angekündigt. Die wichtigsten Zahlen im Überblick:
- Deutsche Bahn: 30.000 Stellen Abbau
- ZF Friedrichshafen: bis zu 14.000 Stellen
- Thyssenkrupp: 11.000 Stellen (5.000 direkt, 6.000 durch Auslagerung)
- Audi: 7.500 Stellen
- Siemens: 6.000 Stellen weltweit (2.850 in Deutschland)
- Commerzbank: 3.300 Stellen
- Porsche: 3.900 Stellen
- Bosch: 5.000 Stellen (3.800 in Deutschland)
- SAP: 3.500 Stellen in Deutschland (Teil eines globalen Abbaus von 10.000)
- DHL (Deutsche Post): 8.000 Stellen
- Coca-Cola: über 500 Stellen durch Schließung von fünf Standorten in Deutschland
- Schaeffler: 4.700 Stellen weltweit (2.800 in Deutschland)
- Ford: 2.900 Stellen, vor allem im Kölner Werk
- Continental: über 7.000 Stellen weltweit (rund ein Drittel in Deutschland)
- Vodafone: 2.000 Stellen
- Deutsche Bank: 2.000 Stellen
Diese Zahlen zeigen deutlich: Eine massive Welle von Jobverlusten rollt durch die deutsche Industrie und Wirtschaft – eine Herausforderung, die nicht nur einzelne Unternehmen, sondern ganze Regionen und Branchen trifft. Darüber haben wir auch ausführlich berichtet.
„Zwar befinden sich viele Entlassungspläne noch in Verhandlungen bzw. werden durch Abfindungen, Vorruhestandregelungen und andere Maßnahmen sozialverträglich gestaltet“, sagte Harald Müller, „aber am Ende sind diese Arbeitsplätze weg.“
„Ende der Spirale nach unten nicht absehbar“
Der Geschäftsführer der Akademie verweist auf Umfragen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), denen zufolge 40 % der Unternehmen für das laufende Jahr einen Stellenabbau planen, in der Industrie sogar 44 %. Harald Müller erläutert, dass die Industrieproduktion in Deutschland seit 2018 rückläufig sei und ein Ende dieser Abwärtsspirale nicht absehbar sei. Besonders energieintensive Branchen wie Chemie oder Metallbau befänden sich im „freien Fall“ mit einem Rückgang von über 8 % im vergangenen Jahr. Für das Jahr 2025 befürchte der BWA-Chef aufgrund zahlreicher Gespräche mit Verantwortungsträgern aus der Branche künftig zweistellige Rückgänge.
„Die deutsche Politik schiebt die Schuld an der wirtschaftlich desaströsen Situation in Deutschland gerne auf das vom US-Präsidenten ausgelöste Zollchaos und die geopolitischen Spannungen“, wird Harald Müller in einer Pressemitteilung zitiert. Nach seiner Einschätzung seien vor allem heimische Faktoren wie hohe Energiepreise, eine überbordende Bürokratie, hohe Steuern, der sich verschärfende Fachkräftemangel und eine wankelmütige Förderpolitik dafür verantwortlich, dass Deutschland als Investitionsstandort unattraktiv werde. Er betont, dass seit 2021 mehr als 300 Milliarden Euro an Investitionen aus Deutschland abgeflossen seien und die Summe der ausländischen Direktinvestitionen auf einen Tiefstand von 15 Milliarden Euro gesunken sei.
Warum Digitalkompetenz sehr wichtig ist
„Angesichts der offensichtlichen Deindustrialisierung des Landes kann man nur hoffen, dass Deutschland die Transformation zur Dienstleistungsgesellschaft gelingt“, sagte Harald Müller. Für diesen Strukturwandel sei die Digitalkompetenz eines Landes sehr wichtig, und damit stünde es in Deutschland nicht zum Besten, meint der BWA-Chef.
„Egal, ob es um Mobilfunk oder Glasfaser geht, der Ausbau hinkt hinterher. Es gibt Ecken in deutschen Großstädten, in denen man mit dem Smartphone noch nicht einmal telefonieren kann“, resümierte Harald Müller.
Bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung seien ähnliche gravierende Defizite festzustellen. Er nennt als Beispiel, dass man „um seinen Personalausweis mit einer Online-PIN digital nutzbar zu machen, im Bürgeramt persönlich vorsprechen“ müsse – ein Beleg für die „mangelhafte Digitalkompetenz im Öffentlichen Sektor“. Noch schwerwiegender als die digitalen Mängel beim Bürgerservice sei die „Digitalferne in Amtsstuben, auf die die Wirtschaft angewiesen ist“. Als konkretes Beispiel führt er die Bauämter an: Nur etwa ein Fünftel aller Kommunen in Deutschland sei in der Lage, digitale Bauanträge entgegenzunehmen. Die Bearbeitung von Baugenehmigungen dauere im Durchschnitt drei bis sechs Monate, bei komplexen Fällen wie Gewerbebauten sogar bis zu einem Jahr. Zudem erklärt Harald Müller, „der Breitbandausbau in Deutschland stockt auch, weil viele Bauämter mit den Genehmigungsprozessen nicht nachkommen“.
Appell an die neue Bundesregierung
„Die Umgestaltung unseres Landes von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft wird ein langwieriger und schmerzhafter Prozess sein. Auf keinen Fall darf die industrielle Produktion hintenangestellt werden, solange nicht klar ist, ob und wie schnell diese Transformation gelingt. Vor allem aber muss der Weg für mehr Digitalisierung freigemacht werden, damit diese Entwicklung voranschreiten kann“, appelliert der Chef der Bonner Wirtschafts-Akademie an die neue Bundesregierung.
Harald Müller meint, dass das „Primat des Datenschutzes bei jedem digitalen Fortschritt“, die „bizarr-bürokratische Regulatorik“ bei der Nutzung Künstlicher Intelligenz sowie die hohen Energiekosten, die den Bau und Betrieb von Rechenzentren in Deutschland zunehmend unattraktiv machten, der Entwicklung hin zu einer digitalen Dienstleistungsgesellschaft „diametral entgegen“ stünden.
„Es steht viel auf dem Spiel, nämlich unser Wohlstand, unser sozialer Frieden und letztlich unsere Demokratie. Denn eine misslungene Transformation mit schweren wirtschaftlichen Verwerfungen wird sicherlich schwerwiegende politische Folgen nach sich ziehen“, resümiert der Experte.
Kippt die Stimmung im Maschinenbau?
2024: Geopolitische Risiken, Standortnachteile und eine schleppende Produktion führen bei den Maschinen- und Anlagenbauern in Deutschland zu wachsender Skepsis. Knapp 60 % der befragten Führungskräfte rechnen innerhalb der nächsten zwölf Monate mit einer wirtschaftlichen Abschwächung in Deutschland, wie eine Umfrage der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC zeigt. Dies stellt den höchsten negativen Wert aller Erhebungen seit 2014 dar. In den letzten drei Monaten ist der Anteil der pessimistischen Einschätzungen um über 20 Prozentpunkte angestiegen.
„Vermutlich spielen globale Risiken wie Strafzölle, drohende Blockbildung und Krisenherde hier eine große Rolle“, zitierte die dpa den PwC-Industrieexperten Bernd Jung noch vor einigen Monaten. Allerdings erklärte er, dass sich die derzeit düstere Sicht der Manager auf die kommenden Monate im Vergleich zur Coronapandemie kaum allein durch die geopolitische Großwetterlage erklären lasse. Vielmehr habe die Branche mit strukturellen Problemen zu kämpfen. Dazu würden die Verteuerung von Standortfaktoren, der Produktionsrückgang sowie Innovationshemmnisse in Zukunftsbereichen wie Nachhaltigkeit und Digitalisierung zählen.
Jung verweist auf eine tief verwurzelte Zukunftsangst, die auch die Innovationskraft beeinträchtige. Verantwortlich dafür seien steigende Energie- und Personalkosten sowie das regulatorische Umfeld. Viele Unternehmen seien zudem durch eine unterdurchschnittliche Kapazitätsauslastung von nur 84,1 % belastet. Ein niedrigerer Wert sei lediglich während der Lockdowns in der Corona-Pandemie verzeichnet worden. Weniger als ein Drittel der befragten Firmen arbeite derzeit noch in der Nähe ihrer Kapazitätsgrenze.
Der deutsche Maschinenbau befindet sich schon seit einiger Zeit in einer Schwächephase. Zwar stiegen die Bestellungen im August laut Daten des Branchenverbands VDMA, die Anfang Oktober veröffentlicht wurden, jedoch sieht VDMA-Konjunkturexperte Olaf Wortmann diesen Anstieg nur als „Ausreißer nach oben“, da der Vergleichswert des Vorjahres sehr niedrig war. Laut Wortmann sei der Tiefpunkt bei den Aufträgen noch nicht erreicht. Das Maschinenbau-Barometer von PwC basiert auf einer vierteljährlichen Umfrage unter Führungskräften des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus.
Zukunft der europäischen Industrie: Energiepreise müssen fallen
Um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu sichern, muss der Ausbau erneuerbarer Energien aus Sicht der Unternehmen dringend beschleunigt werden. Laut BusinessEurope, dem Dachverband der europäischen Industrie- und Unternehmensverbände, ist eine wettbewerbsfähige Energie- und Klimawende noch machbar, erfordert jedoch rasches Handeln seitens der EU-Gesetzgeber.
„Hohe Energiepreise beeinträchtigen weiterhin ernsthaft die globale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen und die Industrieproduktion“, sagte Generaldirektor Markus J. Beyrer gegenüber der dpa. Die Versorgung mit Energie zu wettbewerbsfähigen Preisen ist entscheidend für den Erhalt der industriellen Basis Europas.
Laut einer Studie des Verbands und des Wirtschaftsberatungsunternehmens Compass Lexecon wird der Energiepreis in Europa selbst mit einer unterstützenden EU-Energiepolitik bis 2050 mindestens 50 Prozent höher sein als in den USA, China und Indien. Dies wird für europäische Unternehmen einen erheblichen Wettbewerbsnachteil gegenüber diesen wichtigen Konkurrenten darstellen.
Der Verband fordert einen umfassenden Ausbau aller notwendigen Energiequellen und Infrastrukturen. Dies würde die Sicherheit der europäischen Energiesysteme verbessern und die Gesamtkosten des grünen Übergangs senken, so der Verband. „Unsere Studie zeigt zum Beispiel, dass die Großhandelspreise für Strom um fast 40 Prozent gesenkt werden könnten, wenn die erneuerbaren Energien an den kostengünstigsten Standorten ausgebaut und die Hindernisse für ihre Entwicklung beseitigt würden.“
Befragung Supply Chain Pulse Check von Deloitte und BdI
Die Attraktivität des Standorts Deutschland nimmt ab, was dazu führt, dass viele Unternehmen entscheidende Teile ihrer Wertschöpfung verlagern. Laut einer aktuellen Umfrage von Deloitte haben bereits über zwei Drittel der Unternehmen (67%) dies in unterschiedlichem Maße getan, von moderat bis sehr stark. Besonders ausgeprägt ist dieser Trend in den Schlüsselbranchen Maschinenbau/Industriegüter und Automobil, wo 69 Prozent angeben, ihre Aktivitäten in moderatem bis sehr starkem Umfang verlagert zu haben.
Die „Supply Chain Pulse Check“-Umfrage von Deloitte und dem Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), die im September zum zweiten Mal durchgeführt wurde, gemeinsam mit dem Verband ISLA, zeigt diese Entwicklung auf. Insgesamt wurden 108 Verantwortliche für Lieferketten von Großunternehmen sowie kleinen und mittelgroßen Unternehmen (KMU) in Deutschland befragt. Diese Unternehmen sind hauptsächlich in den Branchen Maschinenbau/Industriegüter, Automobil, Chemie, Bauwesen sowie Transport und Logistik tätig.
Wichtigere Teile der Wertschöpfung wandern ab
Gegenwärtig verlagern Unternehmen insbesondere weniger komplexe Bereiche wie die Fertigung von Bauteilen ins Ausland. „Hier findet die Deindustrialisierung bereits in erheblichem Umfang statt. Wenn die Rahmenbedingungen so bleiben, werden sehr wahrscheinlich mehr Unternehmen folgen und zunehmend wichtigere Teile der Wertschöpfung abwandern“, kommentiert Florian Ploner, Partner bei Deloitte und zuständig für den Industrie-Sektor. Denn bei der Frage nach geplanten Verlagerungen deuten jeweils rund ein Drittel der Befragten auf hochwertige Wertschöpfungsbereiche hin, wie beispielsweise die allgemeine Produktion (33%) oder die Vormontage (34%).
Gegenwärtig zieht es Unternehmen ungefähr gleichmäßig in andere EU-Länder, nach Asien und in die USA. Der Standort China verliert nur minimal an Attraktivität. Lediglich zehn Prozent der Unternehmen planen, ihn zugunsten anderer asiatischer Länder zu verlassen; acht Prozent erwägen eine Rückkehr aus Asien nach Europa.
„Der Druck, der auf den Unternehmen lastet, ist enorm“, wird Dr. Jürgen Sandau, Partner und Lieferketten-Experte bei Deloitte in einer Pressemitteilung zitiert. „Dennoch ist eine vorschnelle Verlagerung selten sinnvoll. Die Firmen hierzulande sind gut beraten, ihre Kapazitäten mit Hilfe von Plattformen und Netzwerken über die nächsten fünf Jahre flexibel zu gestalten. Denn Faktoren wie Rechtssicherheit und Stabilität am Standort Deutschland sind wesentlich für den unternehmerischen Erfolg.“
Unternehmen, die gerade nicht verlagern, planen stattdessen verstärkt, verschiedene Lieferanten zu nutzen. Sie setzen auf eine umfassende Zusammenarbeit mit ihren Lieferanten, den Austausch von Informationen über Lieferketten und die Analyse von Risiken. „Damit lässt sich eine höhere Widerstandsfähigkeit am Standort Deutschland erlangen. Maßnahmen wie diese sind zentral, um die Resilienz in zunehmend diversifizierten Lieferketten zu stärken“, sagt Sandau.
Umfrageergebnisse im Überblick:
- 59% der Umfrageteilnehmer betrachten Energiesicherheit und -kosten als hauptsächlichen Antrieb für Investitionen in anderen Ländern.
- 33% der Befragten beabsichtigen im Allgemeinen, ihre Produktion zu verlagern.
- 29% der Befragten aus den Schlüsselbranchen Maschinenbau/Industriegüter und Automobil bevorzugen Investitionen in den USA.
- 59% der Befragten erleben Beeinträchtigungen aufgrund erhöhter regulatorischer Anforderungen.
- 36% der Befragten sind der Meinung, dass Deutschland sich deutlich aktiver engagieren sollte, um im Wettbewerb mit anderen Standorten zu bestehen.
- Die Hälfte der Befragten hebt hervor, wie wichtig Transparenz und Kommunikation für die Steigerung der Resilienz sind.
Viele Warn- und Hilferufe von allen Seiten
„Die Lage ist dramatisch. Vor allem im Mittelstand stehen viele Unternehmer mit dem Rücken zur Wand, und zwar fast ausschließlich wegen der exorbitant gestiegenen Energiekosten. Einige berichten uns, dass sie vor der Wahl zwischen Pest und Cholera stehen, was ihre Strom- und Gasversorgung im nächsten Jahr angeht. Entweder sie nehmen die Konditionen an, die ihnen ihr Versorger bietet, obwohl sie die Preise absehbar nicht werden zahlen können. Oder sie stehen zum Jahresende ohne Vertrag da. Beides wird dazu führen, dass sie ihre Produktion mindestens drosseln, wenn nicht vorübergehend ganz abstellen müssen“, sagte Markus Steilemann, der Präsident des Chemieverbands VCI in einem Interview mit FAS noch im Jahr 2022.
Auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat vor Produktionsstopps bei Unternehmen gewarnt. „Quer durch die Branchen erreichen uns täglich Hilferufe von Unternehmen, die für das kommende Jahr keinen Energieversorgungsvertrag mehr bekommen. Wenn hier keine Lösung gefunden wird, stehen zum Jahreswechsel Teile unserer Wirtschaft still“, warnte DIHK-Präsident Peter Adrian noch vor einem Jahr.
„Die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe in Deutschland dürfte 2022 um 2,5% und im Jahr 2023 um rd. 5% schrumpfen. Die größten Rückgänge sind in den energieintensiven Industrien zu erwarten. Wenn wir in etwa zehn Jahren auf die aktuelle Energiekrise zurückblicken werden, könnten wir diese Zeit als Ausgangspunkt für eine beschleunigte Deindustrialisierung in Deutschland betrachten“, heißt es auch in einer aktuellen Analyse der Deutschen Bank. Ja, die „Energiekrise trifft die Industrie bis ins Mark“, so heißt nämlich die Analyse und der Titel ist mehr als zutreffend, um die aktuelle Situation zu beschreiben.
Deindustrialisierung „Made in Germany“
Es gab viele weitere Stimmen dazu, die man zitieren kann, und mit jedem Tag werden sie lauter. Die Deindustrialisierung ist in Deutschland angekommen. Die Zeit, eine plausible Lösung zu finden, rennt davon, was gravierende Konsequenzen für die ganze deutsche Wirtschaft haben kann und das seit Jahren angesehenen Label „Made in Deutschland“ wackeln lässt.
Vor allem die energieintensiven Branchen wie Chemie, Glas, Papier oder Metall haben es in dieser Zeit besonders schwer gehabt. Durch die explodierenden Energiepreise sind sie dazu gezwungen, ihre Produktion zu drosseln, um anfallende Kosten zu sparen. Es wird auch zunehmend an Mitarbeitern gespart, bzw. immer mehr Unternehmen haben vor, Arbeitsplätze abzubauen. So haben in einer Umfrage im Auftrag der „Stiftung Familienunternehmen“ 25 Prozent der Unternehmen angegeben, einen Arbeitsplatzabbau zu planen.
Verlagerung der Produktionen ins Ausland
Gleichzeitig verlagern viele Unternehmen ihre Produktion dorthin, wo Energiekosten, niedriger sind – also ins Ausland. Mit anderen Worten: Auch dadurch wird Deindustrialisierung nicht mehr eingeleitet, sondern eher beschleunigt.
„Diese fatale Entwicklung am Standort Deutschland beschleunigt sich. Die Unternehmen fahren die Fertigung in Deutschland zurück oder verlagern ihre Produktion dorthin, wo Energiekosten, Steuern und Bürokratielasten niedriger sind“, sagte Rainer Kirchdörfer, Vorstand der „Stiftung Familienunternehmen“ und Politik.
In dem aktuellen Energiewendebarometer des Industrie- und Handelskammertags (BIHK) erklärten 44 Prozent der 500 befragten bayerischen Firmen, dass sie in Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig seien. In der Industrie waren es sogar 63 Prozent. „Unser Wirtschaftsstandort ist in großer Gefahr“, kommentierte BIHK-Hauptgeschäftsführer Manfred Gößl die Ergebnisse dieser Umfrage.
Standort Deutschland bedroht?
Werden ganze Branchen verschwinden? Es ist eine Frage, die viele demnächst häufig beschäftigen wird. Bereits jetzt, wenn man die Schlagzeilen liest, wird deutlich, dass vor allem die Autoindustrie davon betroffen ist. Kann nun die Energiekrise gar die deutsche Autoindustrie aus Deutschland vertreiben?
Diese Branche hat viel in den letzten Jahren durchgemacht: Corona-Krise, Chipmangel, Probleme mit den Lieferketten – und jetzt kommt obendrauf die Energiekrise.
Der Volkswagen-Konzern erwägt die Verlagerung der Produktion weg aus solchen Ländern, die von russischem Gas abhängig sind.
BMW will in den USA seinen Standort Spartanburg (South Carolina) mit 1,7 Milliarden US-Dollar massiv zur Herstellung von Batterien wie neuer Elektromodelle ausbauen.
Bei den anderen Branchen sieht es nicht besser aus. Wie dpa mitteilte, hat z.B. Europas größter Stahlkonzern Arcelormittal ab Oktober im Norden zwei Anlagen gestoppt. Im Hamburger Langstahlwerk soll die Direktreduktionsanlage außer Betrieb genommen werden. Am Flachstahlstandort Bremen wird einer von zwei Hochöfen bis auf weiteres stillgelegt.
Der Aluminiumhersteller Trimet hat die Produktion an seinen Hüttenstandorten Essen, Voerde (NRW) und Hamburg bereits im Oktober 2021 gedrosselt. „Das derzeitige Strompreisniveau sorgt dafür, dass die Kosten für die Herstellung von Aluminium in einem Maße gestiegen sind, dass sich keine kostendeckende, geschweige denn Gewinn bringende Produktion bewerkstelligen lässt“, hieß es in einer von dpa zitierten Mitteilung des Unternehmens.
Seit Anfang Oktober gilt Kurzarbeit auch bei ArcelorMittal (einem der größten Stahlhersteller der Welt) an deutschen Standorten. Wenn sich die Situation nicht ändert, müsse auch über Verlagerung der Produktion nachgedacht werden, dorthin, wo die Energiekosten nicht so hoch wie in Deutschland und Europa sind – Kanada zum Beispiel.
Auch der Kunststoffhersteller Covestro wird bei der anhaltenden Krise keine Investitionen in Europa mehr tätigen. In Asien seien Energiepreise 20-mal günstiger als auf dem deutschen und europäischen Spotmarkt.
BASF legt ein Sparprogramm vor und geht weiter nach China
Wegen der Energiekrise steht auch der Chemiekonzern BASF unter Druck. Grund dafür sind verschlechterte Geschäfte und schwierigere Rahmenbedingungen in Europa. Deshalb legte die BASF-Führung ein Sparprogramm auf, das die jährlichen Kosten außerhalb der Produktion um 500 Millionen Euro senken soll. Besonders betroffen sei demzufolge der Standort Ludwigshafen, dort sind rund 39 000 der weltweit etwa 111 000 BASF-Mitarbeiter beschäftigt. Das Unternehmen schließt Stellenstreichungen nicht aus. Das heißt: Der Standort Ludwigshafen ist international nicht mehr konkurrenzfähig. Fallen diese Arbeitsplätze weg, wird es zu einem Problem auch für die Stadt insgesamt.
„Diese herausfordernden Rahmenbedingungen in Europa gefährden die internationale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Produzenten“, sagte der BASF-Chef Martin Brudermüller. In China hingegen hat der Konzern ein enorm profitables Geschäft. Deshalb plant der Konzern ein weiteres Werk in Zhanjiang. Man spricht sogar von zehn Milliarden Euro Investitionen für den neuen Verbundstandort China. „Wir kommen in der Summe zum Schluss, dass es vorteilhaft ist, unser Engagement dort auszubauen.“
Kollateralschaden durch Deindustrialisierung für deutsche Städte?
Dass an einzelnen Standorten von den großen Konzernen durch die Verlagerung der Produktionen ins Ausland viele Arbeitsplätze verloren gehen, ist nicht wegzudiskutieren. Aber auch kleinere Unternehmen können die steigende Preise nicht mehr stemmen, so dass man auch da eine Pleitewelle zu befürchten hat, was dramatische Auswirkungen für viele deutsche Städte mit sich bringt. Mit anderen Worten: Ein Domino-Effekt der Energie-Krise könnte immer weitere Branchen lahmlegen.
Es sind nur einige Beispiele für die gravierende Lage der Industrie, doch auch damit ist eigentlich alles gesagt, bzw. damit nimmt das Schreckengespenst Deindustrialisierung reale Züge ein.
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